In einem unscheinbaren Büro in Peking tippt ein Entwickler einen einfachen Prompt ein: „Erstelle ein interaktives Dashboard für Tesla-Aktien mit Prognosemodell.“ Dann lehnt er sich zurück und schaut zu, wie die KI die Arbeit übernimmt. Innerhalb von Minuten öffnet sich ein Browser, Daten werden abgerufen, Code geschrieben, und plötzlich erscheint ein vollständig funktionsfähiges Dashboard mit Aktienkursen, Prognosemodellen und interaktiven Elementen – alles ohne weiteres menschliches Eingreifen.
Willkommen in der Welt von Manus AI, dem neuesten Wunderkind aus Chinas boomender KI-Szene, das seit seiner Vorstellung am 6. März 2025 die Tech-Welt in Aufregung versetzt. Während OpenAI, Anthropic und Google noch an ihren Chatbot-Interfaces feilen, behauptet das chinesische Startup Monica (auch bekannt als Butterfly Effect), mit Manus den ersten „vollständig autonomen KI-Agenten“ geschaffen zu haben – eine Behauptung, die so kühn ist wie die Einladungscodes begehrt sind, die mittlerweile für Tausende von Dollar gehandelt werden.
Der zweite „Deepseek-Moment“?

Anfang 2025 erschütterte DeepSeek die westliche KI-Welt. Das chinesische Startup hatte ein Sprachmodell entwickelt, das mit den besten westlichen Technologien konkurrieren konnte – und das zu einem Bruchteil der Kosten. Die Ankündigung löste einen Wertverlust von 600 Milliarden Dollar bei Nvidia aus und zeigte, dass China trotz US-Exportbeschränkungen für fortschrittliche Chips in der Lage war, führende KI-Modelle zu entwickeln.
Nur zwei Monate später scheint sich das Muster zu wiederholen. Manus AI erregt mit seinem Anspruch auf vollständige Autonomie Aufmerksamkeit und trägt zur Erzählung bei, dass China in der KI-Entwicklung rasant aufholt.
„DeepSeek drehte sich darum, Fähigkeiten zu replizieren, die amerikanische Unternehmen bereits erreicht hatten. Manus verschiebt tatsächlich die Grenzen. Das fortschrittlichste KI-System kommt jetzt von einem chinesischen Startup, Punkt“, erklärt Dean Ball, ein KI-Politikanalyst, der die Entwicklung genau verfolgt.
Von Chatbots zu echten Agenten

Yichao „Peak“ Ji, Mitgründer und Chief Scientist von Monica, betont in seinem Einführungsvideo: „Dies ist nicht nur ein weiterer Chatbot oder Workflow. Es ist ein wirklich autonomer Agent, der Ideen mit Ausführung verbindet.“
Dieser Anspruch klingt zunächst wie das übliche Silicon Valley-Marketing, aber die Demos, die das Unternehmen veröffentlicht hat, sind beeindruckend. Manus kann nicht nur Fragen beantworten, sondern auch eigenständig komplexe Aufgaben lösen – vom Screening von 1.200 Lebensläufen in 18 Minuten bis zur Erstellung dynamischer Finanzanalysedashboards mit Machine-Learning-basierten Prognosen.
Die Benutzeroberfläche ist bemerkenswert einfach: Sie beschreiben in natürlicher Sprache, was Sie erreichen möchten, und Manus verarbeitet diese Anweisungen zu vollständigen Ergebnissen. In einer Demonstration analysierte der Agent Tesla-Aktien und erstellte automatisch ein interaktives Dashboard, das auf einer öffentlichen URL veröffentlicht wurde.
Die Technologie hinter dem Hype
Während Manus AI als revolutionäres Produkt vermarktet wird, ist die technische Architektur tatsächlich ein cleveres Patchwork aus bestehenden Komponenten. Das System nutzt eine Multi-Agenten-Architektur, die komplexe Aufgaben in kleinere Teilschritte zerlegt und diese sequenziell löst.
Laut Recherchen und Aussagen des Unternehmens kombiniert Manus folgende Technologien:
- Claude 3.5 Sonnet von Anthropic als zentrales Sprachmodell
- Feinabgestimmte Qwen-Modelle von Alibaba für spezialisierte Aufgaben
- Browser Use – Open-Source-Software zur Webinteraktion
- Eigenentwickelte Multi-Agenten-Architektur mit dedizierten „Planner“, „Knowledge“ und „Executor“-Komponenten
Peak Ji bestätigte später in einem Post auf X: „Wir setzen Claude und verschiedene Qwen-Finetunings ein. Als wir mit der Entwicklung von Manus begannen, hatten wir nur Zugang zu Claude 3.5 Sonnet v1, was den Einsatz zahlreicher Hilfsmodelle erforderlich machte. Claude 3.7 sieht sehr vielversprechend aus; wir testen es derzeit und werden Updates liefern!“
Der Workflow des Systems folgt einer iterativen Agentenschleife:
- Ereignisse analysieren: Verarbeitet Benutzeranfragen und den aktuellen Aufgabenstatus
- Werkzeuge auswählen: Wählt das passende Tool oder API für den nächsten Schritt
- Befehle ausführen: Führt Shell-Skripte, Web-Automatisierung oder Datenverarbeitung in einer Linux-Sandbox aus
- Iterieren: Verfeinert Aktionen basierend auf neuen Daten
- Ergebnisse übermitteln: Sendet strukturierte Ausgaben an den Benutzer
- Standby-Modus: Wartet auf weitere Benutzereingaben
Jede Manus-Sitzung läuft in einer isolierten Sandbox-Umgebung mit Zugriff auf 29 integrierte Tools – von Code-Editoren bis zu Datenvisualisierungs-Suiten.
Leistungsfähigkeit und Benchmark-Behauptungen
Monica behauptet, dass Manus den GAIA-Benchmark – einen Maßstab für allgemeine KI-Assistenten – mit beeindruckenden 86,5% gegenüber 67,9% von OpenAIs Deep Research-Funktion bestanden hat. Interne Tests sollen zudem zeigen:
- 92% Erfolgsrate bei mehrstufigen Rechercheaufträgen
- 87% Genauigkeit bei Finanzprognosen über 6 Monate
- 5x schnellere Task-Abschlusszeiten gegenüber Claude 3.5 Sonnet im Einzelmodus
Unabhängige Verifizierungen dieser Leistungsdaten fehlen jedoch bislang, und Kritiker wie KI-Ethikerin Dr. Lena Schröder von der TU München warnen: „Benchmarks allein machen noch keine AGI. Die wirkliche Frage ist: Kann Manus wirklich neuartige Probleme lösen oder nur trainierte Muster extrapolieren?“
Die zwei Seiten des Hypes
Die Reaktionen auf Manus in der Tech-Community sind gemischt und reichen von überschwänglichem Lob bis zu tiefem Skeptizismus.
Die Enthusiasten
Einige prominente Stimmen in der Tech-Welt sind begeistert von Manus‘ Fähigkeiten. Victor Mustar, Produktleiter bei Hugging Face, beschrieb es als „das beeindruckendste KI-Tool, das ich je gesehen habe“ und deutete an, dass seine Fähigkeiten das Programmieren neu definieren könnten: „Das könnte traditionelles Coding eliminieren… es geht mehr darum, Ideen zu konzeptualisieren.“
Ein Beta-Tester aus der Finanzbranche berichtet: „Manus hat unsere Due-Diligence-Prozesse von 40 auf 6 Stunden reduziert“ – allerdings mit der Einschränkung einer „12%igen Fehlerquote bei komplexen Vertragsanalysen.“
Die Skeptiker
Auf der anderen Seite stehen die Kritiker, die Manus als überhyptes Produkt sehen. Ein Reddit-Nutzer vergleicht es abwertend mit gescheiterten Hardware-Projekten: „Es sieht aus, als würde es bald in Manure AI umbenannt werden, im Wesentlichen eine zweite Version von Rabbit.ai, inspiriert von Humane Pin.“
Ein anderer Nutzer bemerkt kritisch: „Es ist Claude, der Tools benutzt. Diese Tools sind unkompliziert – ziemlich einfach, tatsächlich. Sie haben etwas ziemlich Einfaches mit einem Modell erreicht, das ihnen nicht gehört. Ohne echte Innovation bleibt die Landschaft unverändert.“
MIT Technology Review erhielt Zugang zu Manus und stellte fest, dass das System zwar vielversprechend ist, aber unter „häufigen Abstürzen und Systeminstabilität“ leidet und „Schwierigkeiten hat, wenn es darum geht, große Textmengen zu verarbeiten.“
Der Einladungscode-Ökonomie
Ein zentraler Aspekt des Manus-Phänomens ist seine künstliche Verknappung. Das System ist nur auf Einladung zugänglich, was zu einer regelrechten Goldgräberstimmung geführt hat. Der offizielle Discord-Server ist auf über 170.000 Mitglieder angewachsen, aber weniger als 1% der Nutzer auf der Warteliste haben einen Einladungscode erhalten.
Diese Strategie der künstlichen Verknappung hat sowohl einen viralen Marketingeffekt erzeugt als auch zu einer Schattenwirtschaft geführt. Einladungscodes wurden Berichten zufolge für Tausende von Dollar auf Chinas Wiederverkaufsplattform Xianyu und auf eBay gehandelt.
Pierre-Carl Langlais, Mitgründer des KI-Startups Pleias und früher Nutzer von Manus, kritisiert diese „irreführende Kommunikation“ und „Hunger-Marketing“-Strategien, die seiner Meinung nach künstlichen Hype erzeugen, indem der Zugang auf eine ausgewählte Gruppe von Influencern beschränkt wird. „Was die KI-Branche jetzt wirklich braucht, sind verbesserte Standards für Transparenz und Offenheit auf allen Ebenen: Modell, Daten und Geschäft“, betont Langlais.
Implikationen für den globalen KI-Wettbewerb
Der schnelle Aufstieg von Manus hat in Europa und den USA Alarmglocken läuten lassen. Greg Nieuwenhuys, Senior Partner bei der Amsterdamer Beratungsfirma Generative AI Strategy, warnt: „Manus stellt einen großen Schritt vorwärts in der KI-Autonomie dar und markiert einen weiteren Durchbruch aus China.“
„Gegenwärtig verfügt Europa nicht über ein gleichwertiges KI-Agentenprojekt mit demselben Autonomiegrad. Dies wirft Bedenken auf, ob europäische KI-Firmen langfristig wettbewerbsfähig bleiben können“, fügt Nieuwenhuys hinzu. „Ohne starke Investitionen und staatlich unterstützte Initiativen riskiert Europa, im Rennen um die KI-Führung zurückgelassen zu werden.“
Während DeepSeek sich hauptsächlich auf die Verbesserung der Fähigkeiten großer Sprachmodelle konzentrierte, überbrückt Manus die Kluft zwischen Denken und Handeln. Es verarbeitet nicht nur Informationen – es handelt danach und automatisiert Aufgaben von Anfang bis Ende.
Diese Verschiebung signalisiert, dass China von KI-Assistenten mit großen Sprachmodellen zu KI-Agenten übergeht, die zu autonomer Ausführung fähig sind – etwas, das selbst OpenAI noch nicht vollständig gemeistert hat.
Roadmap und Herausforderungen
Während Monica ambitionierte Pläne für Manus hat, steht das Unternehmen vor erheblichen Herausforderungen:
Kurzfristige Hürden
- Skalierung: Die aktuelle Architektur unterstützt nur 10.000 parallele Sessions
- Kosten: $3.80 pro Task im Hochleistungsmodus vs. $0.80 bei OpenAI
- Regulierung: Chinas neue KI-Auditpflicht ab Juni 2025
Langfristvision
Ji skizziert in einem X-Space-Interview die Ziele:
- 2025: 100.000 aktive Unternehmenskunden
- 2026: Integration physischer Roboter über ROS 2
- 2027: „Manus OS“ als KI-Betriebssystem
Das Unternehmen plant auch, Teile seines Systems zu open-sourcen, darunter den Sandbox-Controller (Q2 2025), Custom Qwen-Finetunes (Q3 2025) und die Tool-Integration-API (Q4 2025).
Fazit: Revolution oder Hype?

Während die Server in Peking heiß laufen, bleibt die brennendste Frage: Ist Manus wirklich der ersehnte KI-Quantensprung oder nur ein geschickt choreographiertes Machine-Learning-Ballett?
Der Wettlauf um die erste echte AGI hat mit Manus zweifellos ein neues Kapitel aufgeschlagen. Seine Fähigkeit, komplexe Aufgaben autonom zu erledigen, ist beeindruckend, aber die überzogenen Marketingaussagen und technischen Herausforderungen dämpfen die Euphorie.
Was Manus von anderen KI-Systemen unterscheidet, ist nicht unbedingt eine revolutionäre neue Architektur, sondern die geschickte Integration bestehender Technologien zu einem kohärenten Agentensystem. Es nutzt die Stärken von Claude und Qwen, kombiniert sie mit einer Multi-Agenten-Architektur und fügt eine Ausführungsschicht hinzu, die eigenständige Aktionen ermöglicht.
Wie bei allen KI-Startups gilt: Zwischen Ambition und Realität klafft oft ein Abgrund. Die Wahrheit über Manus liegt – wie so oft – irgendwo zwischen den überschwänglichen Behauptungen seiner Befürworter und den skeptischen Einwänden seiner Kritiker.