In den unscheinbaren Bürogebäuden von Redmond entsteht ein KI-Projekt, das die Machtdynamik der gesamten Branche verändern könnte.
In den vergangenen fünf Jahren hat Microsoft mehr als 13 Milliarden Dollar in OpenAI investiert, wurde zum Gesicht der KI-Revolution und positionierte Copilot als das zentrale Produkt seiner Zukunftsstrategie. Doch während die Öffentlichkeit gebannt auf jeden neuen GPT-Release blickt, entwickelt sich im Hintergrund eine bemerkenswerte strategische Wende: Microsoft baut im Stillen seine eigene KI-Modellfamilie namens MAI (Microsoft Artificial Intelligence) auf – ein Projekt, das weit mehr als nur ein Absicherungsplan sein könnte.
Der leise Paradigmenwechsel

Die Schlüsselfigur in diesem bevorstehenden Change ist Mustafa Suleyman. Der ehemalige DeepMind-Mitbegründer und Ex-CEO von Inflection trägt die Last einer 650-Millionen-Dollar-Akquisition und die Erwartungen eines Tech-Giganten auf seinen Schultern. Seit März 2024 leitet er als CEO von Microsoft AI einen der ambitioniertesten Kurswechsel in der jüngeren Unternehmensgeschichte.
„Für ein Unternehmen, das über 14 Milliarden Dollar in OpenAI investiert hat und privilegierten Zugang zu bahnbrechenden Modellen genießt, würde man annehmen, dass Microsoft vollkommen zufrieden damit wäre, sich bei seinen KI-Ambitionen weiterhin auf OpenAI zu verlassen,“ erklärt ein Branchenbeobachter, der mit den internen Vorgängen vertraut ist. „Doch die Realität sieht anders aus.“
Diese Realität manifestiert sich in einem neuen Projekt: MAI-1, ein KI-Modell mit schätzungsweise 500 Milliarden Parametern, das bereits in internen Tests mit den führenden Modellen von OpenAI und Anthropic konkurrieren kann. Es verkörpert Microsofts strategisches Ziel, unabhängiger in der KI-Landschaft zu werden und die komplette Kontrolle über seine technologische Zukunft zurückzugewinnen.
Spannungen im Silicon Valley

Die Beziehung zwischen Microsoft und OpenAI hat in den letzten Monaten merklich gelitten. Besonders aufschlussreich war ein Vorfall, bei dem OpenAI sich weigerte, technische Details zu seinem o1-Modell mit Microsoft-Ingenieuren zu teilen – trotz der massiven Investitionen und der engen Partnerschaft zwischen den Unternehmen.
Auch die jüngste Neuverhandlung der Partnerschaft, die OpenAI nun erlaubt, einige Workloads von Microsofts Azure-Plattform zu anderen Cloud-Anbietern zu verlagern, signalisiert Veränderungen im Kräfteverhältnis. Microsoft bereitet sich offensichtlich auf eine Zukunft vor, in der es nicht mehr ausschließlich auf OpenAI angewiesen sein will.
„Die Spannungen sind real,“ bestätigt eine Person, die mit den Verhandlungen vertraut ist. „Es ist wie in einer langjährigen Beziehung, in der beide Partner plötzlich realisieren, dass sie vielleicht doch unterschiedliche Ziele haben.“
Das Suleyman-Imperium
Unter Suleymans Führung hat Microsoft begonnen, ein beeindruckendes Team aufzubauen. In einem für die Branche ungewöhnlichen Schritt wurden mehrere ehemalige Google DeepMind-Mitarbeiter für eine neue Verbrauchergesundheitsabteilung unter Microsoft AI angeworben, darunter Dominic King, der früher die Gesundheitsabteilung von Google DeepMind leitete.
„Suleyman baut kein Team – er baut ein Imperium,“ bemerkt ein Silicon Valley-Insider. „Es ist ein klares Statement: Microsoft will nicht nur ein Käufer von KI-Technologie sein, sondern ein führender Innovator.“
Das Flaggschiff dieses neuen Imperiums ist MAI-1. Mit seinen 500 Milliarden Parametern mag es auf den ersten Blick kleiner erscheinen als OpenAIs GPT-4 mit über einer Billion Parametern, doch interne Tests zeigen, dass es in Punkto Reasoning-Fähigkeiten – der Fähigkeit, komplexe Probleme zu lösen und menschenähnliche analytische Intelligenz zu demonstrieren – durchaus mithalten kann.
Ein Portfolio-Ansatz

Microsoft verfolgt jedoch keine binäre Strategie der Ablösung. Stattdessen experimentiert das Unternehmen mit einem vielseitigen Portfolio-Ansatz, bei dem neben den eigenen MAI-Modellen auch Technologien von Anthropic, Meta, DeepSeek und sogar Elon Musks xAI getestet werden.
In den Redmonder Labors werden derzeit verschiedene Szenarien durchgespielt, in denen OpenAIs Modelle in Microsoft Copilot durch diese Alternativen ersetzt werden könnten. Es ist ein kalkuliertes Schachspiel, bei dem Microsoft langsam, aber sicher seine Abhängigkeit von einem einzelnen Anbieter reduziert.
„Durch den Fokus auf fortschrittliche Funktionen wie verbesserte Reasoning-Fähigkeiten zeigt Microsoft Entschlossenheit, sowohl technologisch als auch wirtschaftlich an der Spitze zu bleiben,“ erklärt ein Branchenanalyst. „Es ist nicht mehr nur ein Wettlauf um die meisten Parameter, sondern um die intelligentesten und nützlichsten Modelle.“
Der Weg zur öffentlichen Verfügbarkeit
Obwohl Microsoft bislang keinen konkreten Zeitplan bekannt gegeben hat, deuten Berichte darauf hin, dass das Unternehmen plant, seine MAI-Modelle noch in diesem Jahr als API für externe Entwickler zugänglich zu machen. Dies würde Microsoft nicht nur als Konsument, sondern auch als Anbieter im KI-Technologiemarkt positionieren – ein fundamentaler Wandel in seiner Rolle innerhalb des KI-Ökosystems.
Eine solche Öffnung könnte weitreichende Auswirkungen haben: Von schnelleren Innovationszyklen über intensiveren Wettbewerb bis hin zu potenziell niedrigeren Kosten für KI-Technologien. Es könnte auch zu einer Demokratisierung führen, indem es Unternehmen Zugang zu anpassbareren KI-Lösungen verschafft.
Das neue Gleichgewicht der Kräfte

Während Microsoft offiziell betont, dass die Beziehung zu OpenAI stark und kollaborativ bleibt, zeichnet sich hinter den Kulissen ein nuancierteres Bild ab. Es ist das Bild einer strategischen Neupositionierung, bei der Microsoft seine zukünftige KI-Strategie diversifiziert und absichert.
„Microsoft spielt das lange Spiel,“ erklärt ein ehemaliger Microsoft-Manager. „Sie haben die Lehren aus früheren technologischen Umbrüchen gezogen und wollen diesmal nicht auf der falschen Seite der Geschichte stehen.“
Die Entwicklung von MAI signalisiert eindeutig den Beginn eines neuen Kapitels in der Geschichte der künstlichen Intelligenz. In einer Welt, in der KI zunehmend zum Herzstück technologischer Innovation wird, positioniert sich Microsoft strategisch, um nicht nur ein Konsument, sondern auch ein führender Produzent dieser transformativen Technologie zu sein.
Die kommenden Monate werden zeigen, ob MAI tatsächlich das Potenzial hat, mit den führenden Modellen von OpenAI und Anthropic zu konkurrieren. Eines ist jedoch sicher: Der KI-Wettlauf ist noch lange weder entschieden noch linear, und Microsoft ist entschlossen, nicht nur teilzunehmen, sondern zu gewinnen.